Damals wie heute: kleiner Pieks – große Wirkung
Dass Impfdebatten keine Erfindung unserer Zeit sind, zeigt ein Blick auf die ersten großen Impfaktionen gegen Pocken.
Die Erfolgsgeschichte der Pockenschutzimpfung offenbart aber auch, wie die Einführung einer medizinischen Innovation gelingen kann: mit einer funktionierenden „Ausverhandlung“ zwischen den verschiedenen Machtinstanzen – Politik, lokale Autoritäten (Pfarrer, Lehrer), der im medizinischen Bereich Tätigen, Behörden, Medien – und der betroffenen Bevölkerung.
Mit Hieronymus Graf Colloredo begann ein Aufklärungs- und Reformprozess, der alle wesentlichen Lebens-, Kultur-, Wirtschafts- und Verwaltungsbereiche erfasste.
Der Medizin kam dabei ein besonderer Stellenwert zu.
Der reformfreudige Fürsterzbischof scharte dafür ein hochkarätiges Experten-und Beraterteam um sich.
Die medizinische Expertise lieferte Dr. Johann Jakob Hartenkeil, den Colloredo 1787 nach Salzburg berief und mit dem er die ersten Schritte in Richtung moderner Medizin setzte – bei scharfem Gegenwind von etablierten Ärzten, darunter Colloredos Leibmedicus, Silvester Barisani, und dessen Anhänger im „Collegium medicum“.
Der eingeleitete Professionalisierungsprozess sollte Salzburg zu einem Vorreiter der medizinischen Aufklärung machte. Deren Formel: gesunder und vernünftiger Lebenswandel + Schäden vorbeugen + bessere Versorgung.
Pionier, Motor und zentrale Figur der Medizinalreform Colloredos war Johann Jakob Hartenkeil (1761–1808), aus Mainz stammender Arzt und Chirurg, der bis zu seinem frühen Tod 1808 in Salzburg wirkte. Colloredo ermöglichte ihm eine besondere Ausbildung in Paris und London.
Er war der engste medizinische Berater Colloredos und sein Leibchirurg, Lehrer für Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe sowie Publizist.
Er gab die im deutschsprachigen und europäischem Raum erscheinende „Medicinisch-chirurgische Zeitung“ heraus, in der namhafte Mediziner Beiträge veröffentlichen.
Hartenkeil verwirklichte energisch und zielorientiert die medizinischen Reformen, richtete im St. Johanns-Spital eine chirurgische Abteilung ein, initiierte eine Hebammenschule und Erste-Hilfe-Kurse. Er führte die ersten Staroperationen durch und setzte sich für die Einführung von Pockenimpfungen ein.
Suche nach dem Gamechanger
Das gesamte 18. Jahrhundert hindurch zogen verheerenden Pockenepidemien über den europäischen Kontinent. „In der ganzen Welt haben von hundert Personen sechzig die Pocken“, stellte der Philosoph Voltaire 1734 fest.
Die hohe Sterberate senkte zudem die Bevölkerungszahl und damit auch den Wohlstand. Die Pocken wurden ein politisches Problem. Das ließ die Regierungsverantwortlichen aufschrecken.
Die Bekämpfung dieser Epidemie stellte auch in Salzburg eine zentrale (sanitäts)politische und medizinische Herausforderung dar.
Die Mitglieder des Hofrates befanden, man könnte unmöglich länger gleichgültig zusehen, „dass das Leben der nachwachsenden Generation geringer, als das Wohl des Viehes geachtet, u[nd] indem über die unvermuthete Krankheit eines oder des andern Rindstückes sogleich berichtet wird, über die zu hundert Kinder hinwegraffende Blatternpest das sorgloseste Stillschweigen beobachtet wird.“
Der kleine James und der große Durchbruch
Zunächst bekämpfte man die Seuche mit ausgiebigen Aderlässen oder Hitze-Therapien – wobei man die Pockeninfizierten in geschlossenen, fensterlosen Räumen einschloss.
Ab der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts trat die entscheidende Wende ein, mit der Übertragung des unveränderten Blattern-Virus von Mensch zu Mensch (Inokulation bzw. Variolation).
Mit der Einimpfung von Kuhpocken (Vakzination) – mit der Spitze eines Messers – kam eine neuartige, wesentlich verbesserten Impfmethode auf den Markt, die vorbeugend wirkte. Eine medizinische Revolution!
„Er war von mittlerer Statur, blatternarbig, mager…“
… merkte Corbinian Gärtner in seiner Colloredo-Biographie an.
Der Fürsterzbischof dürfte also, wie auch Kaiserin Maria Theresia oder W. A. Mozart, selbst eine Pockenerkrankung durchlebt haben. Zu Ende seiner Regierungszeit ließ er die ersten staatlichen Maßnahmen zur Steuerung der Impfung in die Wege leiten.
Die ersten Schutzblatternimpfungen in Salzburg führte Dr. Joseph d’Outrepont durch, tatkräftig unterstützt von Johann Jakob Hartenkeil.
1802 resümierte Hofrat Joseph Philipp Felner, als junger Beamter ein Protegé Colloredos, bei der Eröffnung der ordentlichen Sitzung des medizinischen Collegios:
„In Ansehung der Verbreitung der Schutzpocken blieb Salzburg nicht zurück; für die Aufnahme dieser nützlichen Erfindung des vorigen Jahrhunderts wurde selbst mehr gethan, als in manchem andern deutschen Lande: Man sandte Impfärzte auf das Land, und zog auf der andern Seite wieder Ärzte und Wundärzte auf öffentliche Kosten vom Lande in die Stadt, um sie durch praktische Anleitungen in der Impfmethode unterrichten zu lassen. An geistliche und weltliche Vorgesetzte ergiengen Circular-Aufmahnungen., um den Schutzblattern allenthalben geneigten Eingang zu verschaffen.“
Schwurbeleien anno 1800
Vom Anti-Christen zu Bill Gates – wer bestimmt über meinen Körper?
Dass eine tierische Substanz in den menschlichen Körper eingeschleust wurde, schürte auch anno 1800 Angst und Unsicherheit.
Die Vorbehalte wurzelten vor allem in religiösen Vorstellungen und Überzeugungen, in alten Vorurteilen und Aberglauben.
Bedeutete der künstliche Eingriff in den menschlichen Körper nicht einen Verstoß gegen die göttliche Ordnung? Griff man nicht in die göttliche Vorsehung ein? Waren die Seuchen nicht eine Naturkatastrophe, die man nur durch Gebete und fromme Versprechen abwenden konnte? Sei die Krankheit nicht eine nötige Reinigung des Körpers von bösen Säften, die eine noch gefährlichere Krankheit verhindere?
Und werden die Kinder durch die Impfung nicht dem Anti-Christen „verschrieben“?
a) Viele glauben … die gewöhnliche Blatternkrankheit sey dem Menschen nothwendig, und wie die Erbsünde angebohren.
b) Es hält daher schwer, sie zu überzeugen, daß diese Krankheit bloß durch Ansteckung mitgetheilt werde.
c) Diese oder andere sagen, die bösartige Blatternmaterie, die Unreinigkeit (oder wie man sich ausdrückt die Sauerey) komme durch das Einäugeln der Kuhpocke aus dem Leibe nicht heraus.
d) Eben so steht hier der Wunderglaube im Wege. Man sagt: Gott müsse helfen –
e) Bey vielen, man darf sagen,- bey den meisten Eltern heißt es: „die Kinder, wenn sie sterben, sind gut aufgehoben‘. [. . .]
(Salzburger Intelligenzblatt, 1802)
Misstrauen schürten auch enttäuschte Erwartungen und konkrete Unfälle. Ein solcher passierte ausgerechnet Dr. Hartenkeil. Er impfte die Söhne des Gutsverwalters Gänsler, die danach an den Blattern verstarben.
Gott wird von ihnen Rechenschaft darüber fordern – Staat und Kirche ziehen an einem Strang
Die Regierung förderte die Verbreitung der Schutzimpfung, veröffentliche Verordnungen und Zirkulare an alle Pfleg-, Stadt- und Hofmarkgerichte – und spannte auch die Kirche mit ein. Predigten dienten als aufklärerische Belehrung, die Eltern erhielten bei der Taufe nicht nur den Segen, sondern auch eindrückliche Ermahnungen.
Selbst Dr. Doutrepont, sonst streng wissenschaftlich unterwegs, bediente sich in seiner „Gemeinfaßlichen Belehrung des Landvolkes über die Schutzblattern“ göttlicher Argumente: „Wenn sie [= die Eltern] ihren Kindern die Schutzblattern einimpfen lassen, so folgen sie nur dem Willen Gottes, der ihnen die Pflicht, zur Erhaltung ihrer Kinder alles beyzutragen, aufgelegt hat. Thun sie dieses nicht, und es stirbt ihnen ein Kind an den Kinderblattern, so sind sie allein schuld an seinem Tode, und Gott wird von ihnen Rechenschaft darüber fordern.“
Der Koadjutor von Berndorf, Gregor Krämer, verkündete von der Kanzel: „Die Milch- oder Schutzblatternimpfung ist also keine Neuerung; — sie ist ein altes, bewährtes Schutzmittel, das nur nicht früher bey uns hat bekannt werden wollen. … Wenn das Neue was Gutes ist, wer mag es tadeln? Und sollte denn nicht Jedem aus euch ein neues Schutzmittel lieber seyn, als der uralte, achthundertjährige Blatterntod?“
Er verfasste auch ein Lied „An die Menschenretterin Kuh“: Du hilfst der Welt aus einer Noth, / Bey der sie lang geweint, / Und rettest sie vom Blatterntod, / Dem alten Menschenfeind.“
Spätestens seit dem Jahr 1800 erhielt die Impfkampagne durch das „Intelligenzblatt von Salzburg“ auch mediale Unterstützung.
Fazit
Die Geschichte des Impfens beginnt mit dem Kampf gegen die Pocken.
Durch die Kuhpockenimpfung sank die Sterblichkeitsrate drastisch. Durch verpflichtende Impfungen von Schulkindern konnte die Gefahr durch diese hochansteckende Viruserkrankung praktisch beseitigt werden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten nur noch selten Sterbefälle auf.
Sonderausstellung: Colloredo. Reformer in neuem Licht
26. 1. – 29. 5. 2023 | Nordoratorium, Residenzgalerie
Die ausführliche Ausstellung über den letzten geistlichen Landesfürsten widmet sich zahlreichen Aspekten seiner einunddreißigjährigen Regierungszeit und rückt so manches Klischee zurecht.